Literaturnobelpreis 1999: Günter Grass

Literaturnobelpreis 1999: Günter Grass
Literaturnobelpreis 1999: Günter Grass
 
Der deutsche Literat wurde mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, weil er in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat.
 
 
Günter Grass, * Danzig 16. 10. 1927; 1943 Einberufung zum Luftwaffenhelfer, ab 1944 Soldat, 1946 in amerikanischer Gefangenschaft, 1947/48 Steinmetzlehre in Düsseldorf, 1948-52 Studium der Grafik und Bildhauerei an der Düsseldorfer Kunstakademie, 1953-56 Hochschule der Kunst in Berlin, 1958 Preis der Gruppe 47, Georg-Büchner-Preis 1965, 1997 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Offiziell wurde Günter Grass für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Er habe sich als Spätaufklärer bekannt in einer Zeit, die der Vernunft müde sei. Mit dem ersten Roman »Die Blechtrommel« — er wurde in den Vordergrund der Würdigung gerückt — habe er die Aufgabe angenommen, die Geschichte seiner Zeit dadurch zu revidieren, dass er das Verleugnete und Vergessene wieder heraufbeschwor: die Opfer, die Verlierer und die Lügen, die das Volk vergessen wollte, weil es einmal daran geglaubt hatte.
 
 Eine bucklige Generation
 
Wie Thomas Mann vor ihm (1929), wurde auch Günter Grass für ein Werk ausgezeichnet, dessen Veröffentlichung viele Jahre zurückliegt. Thomas Mann 27 Jahre nach Erscheinen der »Buddenbrooks« und Günter Grass 40 Jahre nach der Veröffentlichung der »Blechtrommel«. Günter Grass erzählt darin von Danzig, den Nationalsozialisten und der verbogenen, buckligen Generation Oskar Mazeraths.
 
Mit dem Roman schaffte Grass seinen großen Durchbruch. In den frühen 1950er-Jahren hatte er — teils existenzialistische — Theaterstücke und Gedichte geschrieben, allerdings ohne großen Erfolg. 1958 las er beim Treffen der Gruppe 47 in Telgte aus seinem Manuskript der »Blechtrommel« und wurde prompt mit einem Preis belohnt. Im folgenden Jahr erschien das Buch, ein satirisches Panorama der deutschen Realität des vergangenen Jahrhunderts. Zur gleichen Zeit wie Grass aufgewachsen muss der Held des Romans, Oskar Mazerath, die Zeit des Nationalsozialismus vorüberziehen lassen. Oskar weigert sich, zu werden wie die »schuldigen« Erwachsenen. Mit drei Jahren beschließt er, nicht mehr zu wachsen. Am liebsten möchte Oskar in den Mutterschoß zurückoder sich unter dem weiten Rock der kaschubischen Großmutter verstecken. Da das nicht möglich ist, flüchtet er aus der kleinbürgerlichen Naziwelt in die Kunst: Er trommelt. Doch ist das Trommeln nicht nur Flucht, sondern auch sprachlose Anklage.
 
Grass schuf in Oskar einen Helden, der von vornherein alles weiß. Er ist schon bei der Geburt »fertig« wie Grimmelshausens Simplicissimus: ein Antiheld, ein Gegenpol zu den Protagonisten des Bildungsromans, ein widerlicher Gnom mit einer teuflischen Intelligenz im Körper eines Dreijährigen. »Menschliches ist nichts an ihm«, sagte der Kritiker Hans Mayer bei dem Erscheinen des Buches. Es lag nahe, »Die Blechtrommel« in die Tradition der pikaresken Romane einzureihen. Grass' provokative, den Dadaismus nachahmende Wortwahl wurde von vielen Lesern und Kritikern als abstoßend empfunden.
 
Doch verbirgt sich in Grass' erstem Roman hinter der exzessiven Sprache die Tendenz eines politischen Moralisten, die zunächst kaum erkannt wurde. Aber in den beiden anderen Werken der »Danziger Trilogie«, der Novelle »Katz und Maus« (1961) und dem Roman »Die Hundejahre« (1963) setzt sich diese Tendenz fort. Wie Grass selbst betonte, konnte er nicht frei fabulieren, sondern musste dem Vergessen entgegentreten.
 
 Politisches Engagement und Gesellschaftskritik
 
In den 1960er- und 1970er-Jahren des 20. Jahrhunderts griff Grass aktiv in die Politik ein, beteiligte sich an drei Bundestagswahlkämpfen der SPD und hielt Wahlkampfreden. Nach der Wahl des Jahres 1972 zog er sich desillusioniert aus der aktiven Politik zurück. Das Schneckentempo des politischen Fortschritts in Deutschland veranlasste ihn, seine Erfahrungen in dem Werk »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« (1972) zusammenzufassen und an die Intellektuellen zu appellieren, in das Tagesgeschehen einzugreifen. Die Gegenwart ist für Grass zugleich Geschichte. Er definierte einst vor Studenten einen Schriftsteller als jemand, der gegen die verstreichende Zeit schreibt.
 
Im Folgenden schrieb Grass mit »Der Butt« (1977) und »Die Rättin« (1986) zwei umfangreiche geschichtliche Romane. Sie erzielten hohe Auflagen, sind aber von der Kritik keineswegs einhellig akzeptiert worden. »Der Butt« wurde als ein großer Roman über die Bildung und die Missbildung der Zivilisation angesehen. Er beinhaltet eine gesellschaftliche Kritik, fordert beispielsweise die radikale Abkehr der Geschlechter von den bisherigen Rollen und Gewohnheiten. Ein weiterer zentraler Punkt ist der Hunger auf der Erde, der für Grass katastrophale Ausmaße angenommen hat. Zum Hungerproblem kommen in der »Rättin« auch Belange wie die Friedensbewegung und der Umweltschutz hinzu.
 
Im »Treffen von Telgte« (1979) spinnt Grass den Gedanken weiter, dass Gegenwart Geschichte ist und Geschichte real vor uns steht und nicht verschleiert werden darf, damit man auch die Gegenwart begreifen kann. Das Werk beginnt programmatisch: »Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an. Andere Geschichten auch. So lang rührt jede Geschichte her, die in Deutschland handelt. «
 
 
Heiß diskutiert wurde »Ein weites Feld« (1995), in dem Grass nach der Wiedervereinigung Deutschlands mehr demokratische Wege zur Eingliederung der ehemaligen DDR fordert. Der Roman spielt in der DDR in den Jahren des Zusammenbruchs des Kommunismus und des Falls der Mauer. In seinem bisher letzten Buch »Mein Jahrhundert« schreibt Grass für jedes Jahr des vergangenen Jahrhunderts eine Episode, die jeweils ihren eigenen Erzähler hat, und schmückt sie mit eigenen Illustrationen aus.
 
Während die »Blechtrommel« inzwischen unumstritten ist, führten kritische Stimmen an, dass Grass mit keinem späteren Werk den Erfolg seines Debüts habe wiederholen können. Einige Kritiker gingen sogar so weit zu sagen, niemals habe ein Nobelpreisträger ein schlechteres Buch zustande gebracht als Grass mit »Die Rättin«.
 
Allgemein gelobt wurde Grass' politisches Engagement, mit dem er zum Dialog zwischen Politik und Kultur in Deutschland wesentlich beigetragen habe. Die Akademie zeichnete Grass stellvertretend für die Generation aus, die unter dem traumatischen Titel der Hitlerjugend heranwuchs und dennoch neben dem Wirtschafts- das Literaturwunder ermöglichte.
 
I. Arnsperger

Universal-Lexikon. 2012.

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